Charlotte Posenenske

Frühjahr 2011

Die Entscheidung Charlotte Posenenskes, im Jahr 1968 mit der Kunst aufzuhören, wird meist als politisch begründete Entscheidung wahrgenommen, vor allem wegen ihrer Äußerung, sie könne sich “nicht damit abfinden, dass Kunst nicht zur Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme beitragen kann”.1 Dass Kunst nicht maßgeblich und direkt zur Lösung sozialer Probleme beitragen würde, war Charlotte Posenenske sicher schon vor 1968 bewusst. Ihre Entscheidung, die Kunst aufzugeben, fällt sie jedoch bezeichnenderweise, nachdem sie zwei Jahre lang Skulpturen geschaffen hatte. Denn es ist gerade die Skulptur, die aufgrund ihrer beharrlichen Objekthaftigkeit den modernen Konflikt zwischen der Bedeutung des Kunstwerks und der Bedeutung des Konsumguts manifestiert.2 Es hat fast den Anschein, als ob Posenenske sogar in der besonderen, reduzierten Ästhetik ihrer sorgfältig gearbeiteten Metallskulpturen eine Aura entdeckte, die sie beunruhigte. Und in der Tat finden sich in Posenenskes Werken immer wieder Hinweise auf ihren zugleich komplexen und zarten Prozess der Produktion.
Dabei hatte sich Posenenske wie viele Künstler ihrer Zeit bemüht, diese Produktion und öffentliche Präsentation ihrer Werke zunehmend aus dem traditionell künstlerischen Kontext herauszulösen. Sie wollte dies erreichen durch die am Technischen-Konstruktivistischen orientierte Formen- und Materialsprache, durch sorgfältige, an industrielle Herstellung angelehnte Manufaktur der Werke, durch das Ausstellen ihrer Werke an unkonventionellen, oft industriell anmutenden Orten sowie nicht zuletzt durch die Darstellung ihrer künstlerischen Persona im Habitus des (männlichen) Industriearbeiters mit der Diktion eines Ingenieurs.

Form- und Materialsprache

Vor allem Charlotte Posenenskes Metallskulpturen aus den Jahren 1965 bis 1968 spiegeln formale Interessen wider, die sich ebenso in der konstruktivistischen Kunst des frühen zwanzigsten Jahrhunderts wie auch in der zeitgenössischen amerikanischen Minimal Art fanden. Das Interesse an strengen geometrischen Formen und harten, industriellen Materialien war eine Konsequenz des Unbehagens, das junge deutsche Künstler in den sechziger Jahren gegenüber dem in den fünfziger Jahren allgegenwärtigen Abstrakten Expressionismus empfanden. Der Gestus des individualistischen Pathos schien für viele zu einer leeren, anachronistischen Formel für avantgardistische Kunst geworden zu sein.
Charlotte Posenenske formuliert 1968 den Wunsch, Objekte zu produzieren, die “immer weniger als ‘Kunstwerke’” erkennbar seien. Malerei wie auch klassische Skulptur galten als Produkt eines als traditionell, ja antiquiert empfundenen Kunstverständnisses und wurden 1965 von Donald Judd in seinem Text “Specific Objects” als begrenzt und unglaubwürdig beschrieben. Frühe Minimal Art Skulpturen dagegen, zum Beispiel von Dan Flavin, wurden von Judd als “offensichtlich nicht Kunst” gelobt. Sie resultierten teilweise aus der industriellen Produktion, ihre Materialität sei direkt, gewissermassen ungeschönt, sie hätten eine “verstockte Identität” und seien – so Judd – “üblicherweise aggressiv”.3 Yvonne Rainer beschrieb später die Schattenseiten der Minimal Art, die das Unbewusste und das Gefühlsleben unter ihrer Materialität verborgen. Es ist aber auch genau jener unverhohlene und herausfordernde Machismo der industrialistischen Rhetorik und Formensprache und seine aufdringliche Körperbezogenheit, der die Minimal Art unter Kunstkritikern zu einer der umstrittensten Kunstformen der Nachkriegszeit werden ließ und der auch Charlotte Posenenske fasziniert haben muss.
Posenenske selbst hatte auf Reisen in die Niederlande, durch ihren Galeristen Konrad Fischer und nicht zuletzt durch zahlreiche Ausstellungen Kenntnis von der amerikanischen Minimal Art. Ein bekanntes Foto von der Dokumenta 4 im Jahre 1968 zeigt die «L-Beams» von Robert Morris. Die schiere Größe dieser noch in der zweidimensionalen Wiedergabe nahezu raumfüllend erscheinenden Skulpturen musste beeindruckend wirken. Die in deutschen Kunstzeitschriften der sechziger Jahre mehr oder weniger subtil geäußerte Kritik an der amerikanischen Minimal Art lag Charlotte Posenenske fern. Im Gegenteil: “Ihr positives Verhältnis zu Amerika, wo Größe eine eigene Qualität ist, blieb ungebrochen.” 4

Produktion

Die eingehende Beschäftigung mit dem künstlerischen Produktionsprozess und der Bearbeitung des Materials sowie der Arbeitsmittel spielt in allen Arbeiten Posenenskes eine herausragende Rolle. Bereits in ihren frühen Werken wie dem hier gezeigten «Rasterbild (Halbkreise)» aus dem Jahr 1957 wird die Komplexität und Sorgfalt ihrer Arbeitsweise offenbar: Die auf einem 58,5 x 48 cm großen Blatt im Hochformat angeordneten 99 Kreisfiguren sind mit Bleistift gezeichnet und mit mattschwarzer Plakafarbe jeweils zur Hälfte ausgefüllt. Der zunächst auffallende Topos der Serialität wird durch die Unvollkommenheit und Verschiedenheit der jeweils um 90 Grad verschobenen Ausmalungen gebrochen. So tritt die Frage nach einem nachvollziehbaren System der Anordnung bei näherer Betrachtung des Bildes in den Hintergrund, und die individuelle Flächenfüllung der kleinen Halbkreissegmente thematisiert Fragen nach Flächigkeit und Absorptionsgrad der opaken Farbe und der Fragilität der feinen grauen Konturen.
Auch in dem weitaus späteren «Spritzbild» aus dem Jahr 1964 / 65 dient die Fläche des nur 34 x 24 cm messenden Blattes einer gezielten Darstellung der Möglichkeiten von Komposition, Transparenz, Gradation und Verdichtung mittels nur zweier mit einer Spritzpistole hergestellten Farbaufträge in Rot und Schwarz. Auf der linken Seite des Blattes ist eine halbkreisförmige schwarze Fläche mit einer zur Blattmitte hin stark zerstäubten Kontur zu sehen, die an die präzise vertikale Kontur des roten, von oben nach unten gleichmäßig gradierten Farbauftrags heranreicht.
Die Verwendung der Spritzpistole verdeutlicht einerseits die Experimentierfreudigkeit Charlotte Posenenskes, andererseits auch die Notwendigkeit der intellektuellen und formalen Distanz der Künstlerin zum Arbeitsmaterial, hier mittels eines Apparates. Diese Zurückhaltung in der Bearbeitung der einfachen Bildträger zeigen die zwischen 1964 und 1965 entstandenen «Streifenbilder» besonders deutlich. Diese Werke, die im Wesentlichen aus einem weißen Blatt Papier und farbigem Klebeband bestehen, sind zunächst in ihrer Formensprache mit horizontal oder vertikal angeordneten Farbblöcken reduziert und klar und lösen sich erst in späteren Abwandlungen kompositorisch auf. Andererseits vermittelt schon die Faktur der frühen Bilder den Eindruck, als seien die noch nicht einmal fest angehefteten bunten Klebestreifen gleichsam auf dem Papier wie mit einer verlegenen, bewusst exponierten Nachlässigkeit abgegeben worden. Auch dem hier gezeigten «Streifenbild» (1964) mangelt es bei näherem Hinsehen scheinbar an einem festen Kompositonsgerüst und materieller Verfestigung. Vor allem das grüne Klebeband hat an den Rändern Faltspuren und unsaubere, ausgebrochene Kanten. Die sich dadurch ergebenden Leerstellen sind mit grünem Filzstift ausgemalt. Zudem sind die Klebestreifen zwar in der Horizontale halbwegs gerade aufgebracht, die Enden korrespondieren jedoch nur vage mit der Grenze des papiernen Trägers, die abgeschnittenen Enden reichen nicht bis an den Blattrand oder ragen unsauber darüber hinaus. Man darf davon ausgehen, dass Posenenske diese Unstimmigkeiten mit bedachtsamer Sorgfalt so montiert hat.

Präsentation

Posenenske selbst sah die «Streifenbilder» als Vorläufer ihrer ab 1965 entstandenen plastischen Metallarbeiten, in denen die Behutsamkeit der Papierarbeiten durch einen stärker konzeptionell geprägten Kunstbegriff erweitert wird. Die ab 1965 hergestellten Arbeiten, darunter die «Reliefs» der Serien A, B und C nach Zeichnungen der Künstlerin in einer Metallwerkstatt ausgeführt, eine Vorgehensweise, wie sie auch von vielen amerikanischen Minimal Art Künstlern bekannt war. Das Ziel war eine Ästhetik, die den Anschein eines Industrieprodukts oder sogar eines Massenprodukts haben sollte, auch wenn die Werke natürlich nur in kleiner Stückzahl oder gar als Unikate angefertigt wurden und ihre Fabrikation, wie etwa bei Donald Judds Skulpturen, meist mit hohem handwerklichen Aufwand verbunden war. Entscheidend war hier die Konnotation des Industriellen, die solche Metallobjekte in der öffentlichen Wahrnehmung hatten. In einem Brief an die Galerie Rose Fried vom 7.11.1966 legte Posenenske ihren Metallskulpturen Motive aus technischen Umfeldern zugrunde. “Thema: Eindrücke von Auto- und Flugverkehr, Lichtwirkungen, Eindrücke bei schneller Fahrt, perspektivisch sich verengende, sich vor- oder zurückwölbende Räume (Straßen, Lufträume).” 5 Das hier ausgestellte, aus unbehandeltem Stahlblech hergestellte «Relief A» aus dem Jahr 1966 ist ein Prototyp für die danach entstandenen «Reliefs» aus Aluminiumblech mit den Maßen 100 x 50 x 14 cm, die mit den Initialen der Künstlerin und dem Entstehungdatum versehen waren und in vier normierten Farben (Rot, Blau, Schwarz und Gelb) des RAL Deutschen Instituts für Gütesicherung und Kennzeichnung lackiert wurden. Posenenske wies in einem Ausstellungskatalog ausdrücklich auf die RAL-Farben hin und auch darauf, dass “Kombinationen aus einzelnen (gleichen oder verschiedenen) Elementen derselben Farbe” möglich seien.6 Industrielle Produktionstechniken werden hier durch die Suggestion des Seriellen imitiert, das Prinzip der Serialität wird also aus dem Bereich der Produktion in den der Präsentation verlagert.
Mit der Konzeption größerer Skulptursysteme wie den hier gezeigten «Vierkantrohren Serie D», ursprünglich hergestellt im Jahr 1967, erschloß Posenenske zunehmend auch unübliche Ausstellungsorte im öffentlichen Raum. Durch die variable Kombination der Einzelteile aus galvanisiertem Stahlblech waren von Posenenske auch als «Kanäle» bezeichnete Formationen möglich, die sie 1967 sowohl in Galerien als auch an kunstfremden Orten im Großraum Frankfurt am Main ausstellte, zum Beispiel auf einer Verkehrsinsel in Offenbach am Main und auf dem Rollfeld des Frankfurter Flughafens. Doch auch, ja gerade die Präsentation in einer “industriellen”, vermeintlich neutralen Umgebung vermochte die Kunstqualität der Objekte nicht aufzuheben.
Die faszinierende Künstlichkeit beziehungsweise Fremdheit des künstlerischen Objekts in der Umwelt blieb bestehen, was alte Fotos eindrucksvoll belegen.

Persona

Eine Nahaufnahme (wahrscheinlich aus dem Jahr 1967) zeigt die Künstlerin Charlotte Posenenske bei der Arbeit. In der rechten Hand hält sie eine Spritzpistole, der Kragen ihres farbverschmierten Arbeitskittels ist hochgeschlagen, und ihr konzentriertes Gesicht größtenteils unter einer Schutzmaske verborgen. Die Ästhetik minimalistischer Kunst wird oft mit einer kühlen und distanzierten Attitüde assoziiert, die nicht nur in den Werken offenbar zu sein scheint, sondern oft auch in der auch bei Charlotte Posenenske präsenten Faszination mit befremdenden und entfremdenden Umgebungen, im Gestus der Industriearbeit, oder auch der nüchternen Diktion der meist knappen, prägnanten Titel.
Trotz aller Kühle und der Ablehnung jeglichen Pathos’ zeugen Charlotte Posenenskes Werke von der Intensität ihrer künstlerischen Arbeitsweise – in der Spannung zwischen der Reduziertheit und Verletzlichkeit der Sprühbilder, in der Bedachtheit der Klebebilder und in der Größe Monumentalität und Sprödigkeit der Serie D.                      

Kirsten Weiss

1 Charlotte Posenenske, «Statement», In: Art International (15. Mai, 1968), S. 50.
2 Alex Potts, The Sculptural Imagination (New Haven und London, 2000), S. viii.
3 Donald Judd, «Specific Objects», In: Donald Judd, Complete Writings 1959-1975 (Halifax und New York, 1975), S. 187.
4 Brunn, Burkhard. Charlotte Posenenske 1930-1985. Erinnerungen an eine Künstlerin (FrankfurtMain, 2005), S. 32.
5 Zitiert nach Renate Wiehager, «Provokationen für Geist und Konvention. Zum Werk von Charlotte Posenenske.» In: Renate Wiehager (Hrsg.), Charlotte Posenenske 1930-1985 (Ostfildern, 2009).
6 Paul Maenz (Hrsg.), Posenenske (Frankfurt am Main, 1967).