Hanne Darboven
– Arbeiten aus den 60ern und 70ern

VERNISSAGE
am 12.02.2020 ab 18 Uhr


Geöffnet Mittwochs 16:30 – 18:30 Uhr

handschriftlich - enzyklopädisch

Hanne Darboven (1941-2009)

Im Rückblick auf die Kunst der 1970er Jahre, der 1980 die 39. Biennale di Venezia in den Giardini del Castello begleitete, zeigte Harry Szeemann auch das Werk Der Sand '79 von Hanne Darboven. Zwischen den Werken von Walter de Maria, Richard Long, Bruce Nauman, Agnes Martin, Sol Lewitt, Donald Judd und vielen anderen erschienen die 456 mit kurzen Notaten und Schreiblininen gefüllten und einzeln gerahmten Blätter von strenger Konzeptualität, als konsequente Fortsetzung der in den U.S.A. diskutierten Dematerialisation of Art, die in der Folge der Minimal Art den Künstler hinter das Objekt zurücktreten und dieses selbst als beiläufige Materialisation grundlegender Formstrukturen ansehen ließ.

Während zeitgleich im Deutschen Pavillon Georg Baselitz und Anselm Kiefer vordergründig keine Vergangenheitsbewältigung betrieben - Baselitz' grob aus einem Holzblock herausgemeißeltes Modell für eine Skulptur erhob sich dennoch gleichsam knarzend und provokant zum nationalsozialistischen Wiedergänger, Kiefer zelebrierte im Großformat Deutschlands Geisteshelden in rußgeschwärzter Walhalla - erschien die Kunst Hanne Darbovens deutlich im vornehmlich von amerikanischen Künstlern geführten Diskurs positioniert zu sein, der sachlich kühl die Bedingung der Möglichkeit von Kunst im Spannungsfeld von Form und Raum und mithin von kontextualisierter Wahrnehmung reflektierte.

1982 kehrte Hanne Darboven nach Venedig zurück. Ihr diesmal im Deutschen Pavillion gezeigtes Werk Schreibzeit/Weltansichten machte deutlich, dass tatsächlich nicht nur Form, Konzepte oder Ideen im Mittelpunkt ihres Schaffens standen, sondern die Welt. Das auf 1400 Kartons zusammengefasste Werk verband die formale Strenge der Konzeptkunst mit der lebensweltlichen Dimension der Beschreibung und Aneignung von Welt; eine Erfahrungsdimension mithin, die neben den vielfach eingefügten Postkarten nicht zuletzt die Künstlerin selbst durch die erkennbar handschriftlich ausgeführten Linien unter dem Titel "Schreibzeit" einlöste.

Der von Johannes Cladders kuratierte Biennale-Beitrag stellte damit ein künstlerisches Werk vor, das, wie Brigid Doherty und Peter Nisbet bemerkten, aus der deutschen Kunst nach 1945 singulär herausragte und das noch 1999 bei Weitem nicht angemessen erfasst oder geschätzt wurde. "Formally ambitious and historically informed" (Doherty/Nisbet) schlug die zuvor weitgehend international wahrgenommene Künstlerin eine Bücke zwischen dem analytischen Formalismus amerikanischer Prägung und einer spezifisch deutschen Reflexion von Geschichte und Gegenwart als Kulturgeschichte. Monumentale Werkkomplexe wie Bismarckzeit, 1978, Für Rainer Werner Fassbinder, 1983, Kulturgeschichte 1883-1983, 1980-83, oder Requiem für M. Oppenheimer, 1985, lassen dabei, um nur einige Beispiele zu nennen, nach Inhalt und Umfang den enzyklopädischen Anspruch erahnen, mit dem Hanne Darboven die Welt betrachtete und in ihrer Kunst visualisierte.

Die Welt sammelte die Künstlerin dabei zunächst in ihrem großräumigen Harburger Atelier als dicht gestaffelten Mikrokosmos von Gegenständen, dessen Ordnung oder Regellosigkeit sich wohl nur ihr selbst erschloss und der Grundlage wie Ausgangspunkt ihrer umfassenden Arbeiten war. Blickt man aber auf die frühen und zum Teil noch in New York enstandenen Arbeiten wie hier in der Sammlung Michalke, so wird deutlich, dass - wichtiger noch - das künstlerische Schaffen Darbovens von der grundlegenden Reflexion über die Eigengesetzlichkeiten der Kunst gegenüber eben dieser Welt getragen wird. Es sind ihre in New York verbrachten Jahre zwischen 1966 und 1968, die sie die Impulse der amerikanischen Minimal Art um Carl Andre, Sol Lewitt und anderer aufnehmen und ihre eigene künstlerische Position finden liessen. Ausstellungen wie Primary Structures im Jewish Museum, New York, und Working Drawings and Other Visible Things on Paper Not Necessarily Meant to Be Viewed as Art der Visual Art Gallery hatten in den 1960er Jahren den Fokus von dem subjektiv expressiven Schaffensprozess des Abstrakten Expressionismus' auf die Phänomenologie des Objekts verschoben. In seriellen Anordnungen erforschten die genannten Künstler Maße und Regeln geometrischer Strukturen und deren Variationen ebenso wie deren Wahrnehmungen in unterschiedlichen räumlichen Kontexten.

So zeigen auch Hanne Darbovens frühe Zeichnungen die eindringlichen Versuche, grundlegende visuelle Strukturen subjektiver Expressivität zu entziehen und einer strengen Regelhaftigkeit zu unterwerfen. Zugleich werden bereits, wie etwa in dem
mit NYC/1966/67 bezeichneten Blatt Konstruktion/Perforation I, markante Abweichungen von dem aktuell erhobenen Anspruch deutlich, Objekt und künstlerisch-individuelle Handschrift voneinander zu trennen. Das mit einem Millimeterraster bedruckte Blatt ist in Höhe und Breite jeweils in fünf quadratische Felder von vier bzw. fünf Zentimeter Kantenlänge unterteilt, in die als weitere grundlegende geometrische Größe ein Quadrat mit drei Zentimeter Kantenlänge eingefügt ist. Die mit fünf Zentimeter Kantenlänge größten Quadrate sind dabei vertikal wie horizontal auf der Mittelachse der Konstruktion positioniert und geben der Zeichnung gleichermaßen ein Zentrum wie auch eine klare Kreuzstruktur.

Die mit Bleistift ausgeführte Versuchsanordnung, in der wandernde Eckpunkte und Linien "quer "(horizontal) und "hoch" (vertikal) zueinandergesetzt werden, wird darüber hinaus durch Perforationen unterstützt und zugleich vertieft. Auf den Grundlinien der Quadrate regelmäßig im Zentimeterabstand eingestochen, weichen die Perforationen innerhalb derselben von den verbleibenden Linien des Papiers millimeterweise ab, unterstützen die vorgedachte Struktur und/oder lassen weitere Varianten entstehen. Das Ergebnis ist ein lebhaftes, von Zeichenlinien überzogenes Blatt, dessen Ordnung durch das Raster des Millimeterpapieres, durch mathematische Relationen und durch die Metaebene der Perforationen bestimmt wird.

Es würde hier zu weit führen, das Blatt gänzlich im Detail zu beschreiben, festzuhalten ist jedoch: Hanne Darboven verzichtet eben nicht, wie etwa auch in Konstruktionen – Abläufe, um 1966-67, auf die von Hand ausgeführte Visualisierung und in diesem Fall auch perforierende Bearbeitung; ihr Schaffen bleibt bei aller abstrakten Reflexion über grundlegende formale Strukturen handschriftlich. Zugleich setzt sich die Künstlerin selbst den mitunter endlos erscheinenden Variationsmöglichkeiten ihrer vorgedachten Versuchsanordnungen aus, folgt der Tiefe und der Weite der "primary structures" minutiös im Sinne des Wortes d. h., das gedankliche Konstrukt mit Arbeits-/Lebens-/Schreibzeit verbindend.

In diesem Zusammenhang wäre es allerdings falsch, die unermüdliche Präzision, mit der alle Variationen durchdekliniert werden, mit Obsessivität zu verwechseln. Es ist vielmehr die Selbstverpflichtung der Künstlerin, dem jeweilig gestellten Formproblem seriell und ernsthaft auf den Grund zu gehen. Die Annotationen am Rand dieses wie auch anderer Arbeitsblätter sind daher nicht nur Schlüssel, sondern auch Dokumentation der ausgeführten Formanalyse. Mit der handschriftlichen Ausführung stellt sich die Künstlerin zudem einer werkimmanenten wie auch einer phänomenologisch-kritischen Fragestellung, die mit dem formanalytischen Rigorismus der Minimal Art nicht zu beantworten war. So galt es zum einen, Werkprozess und Biographie, Kunst und Welterfahrung zu synchronisieren, um Kunst als Form und Ausdruck von Geschichte und Gegenwart zu bewahren und nicht einem beliebigen Ästhetizismus anheimzufallen. Zum zweiten galt es, eben diese Kunst als "primary structure" von jeglichem subjektivem Erleben wie auch von tagespolitischen Ereignissen zu trennen. Statt zeitgebundener Illustration oder subjektiver Erzählung suchte Hanne Darboven nach einer grundlegenden Möglichkeit der Betrachtung/Beschreibung der Welt, nicht nach ihrer Deutung.

Eine weitere Beobachtung tritt hinzu: Blickt man an dieser Stelle neben den bereits erwähnten Arbeiten auch auf o. T. (Vol. I | 1.-100. | à 19), 1970, und das aus acht Notenblättern bestehende Werk o.T. U-Schwünge auf regulärem Notenpapier aus dem Jahr 1976, so wird deutlich: Hanne Darboven analysiert in ihrem Schaffen nicht nur grundlegende visuelle Strukturen. Mit der Reflexion und zugleich der Konzentration auf Linie, Zahl und Schrift stellt sie vielmehr die grundlegenden Modalitäten menschlicher Erkenntnis und Aneigung von Welt in das Zentrum ihres Schaffens. Darbovens Verständnis geht damit weit über die formale Analyse hinaus und schließt in den Begriff der "primary structures" Geometrie, Mathematik, Literatur und - mit Blick auf die mit Schreiblinien gefüllten Notenblätter - auch Musik als essentielle Ordnungsstrukturen gleichermaßen mit ein.

Die Dimension der Zeit schließlich fasst die Künstlerin in handschriftlichen oder maschinengeschriebenen Zahlenfolgen zusammen. Ihre Konstruktionen genannten Zeichnungen visualisieren die Kalenderdaten eines Jahres oder auch eines Jahrhunderts in numerischen Abfolgen, die auf der Quersumme von Tagesdaten beruhen. Als mathematisches Konstrukt ließ sich damit jeder Zeitraum darstellen, ohne diesen als subjektiven Erfahrungs- oder Erlebnishorizont definieren zu müssen. Und schließlich löst Hanne Darboven mit der handschriftlichen Ausführung insbesondere der Schreiblinie auch die biographische Dimension ein, ohne diese zum inhaltlich bestimmenden Motiv zu erheben. "Zeit als Schreibzeit und Raum als geometrische Größe sind daher nicht mehr erzählerische bzw. illusionistische Funktionen, sondern eigengesetzliche, serielle Strukturen. Die Kunst ist nicht mehr Abbildung der Realität, sondern wird zu deren Äquivalent." (d. Autor 1997)

Dieses künstlerische Paradoxon von handschriftlicher und zugleich serieller Ausführung = Kunst als Äquivalent der Realität wäre mithin nach Hanne Darboven Möglichkeit und Voraussetzung jener zu Beginn erwähnten enzyklopädischen Betrachtung der Welt. Eine solche Betrachtung, dies hat die Künstlerin deutlich gemacht, ist dabei nicht mit einer Enzyklopädie zu verwechseln, die im Moment ihrer Vollendung immer bereits unvollständig und überholt sein muss. Vielmehr schreibt sich die Künstlerin mit ihrer handschriftlichen Tätigkeit selbst in die Wirklichkeit ein, nimmt an dieser teil, entzieht diese aber zugleich der bloß subjektiven Deutung durch die strenge Regelhaftigkeit der Konstruktionen. Nur so, im Äquivalent der Kunst, so wäre zu schließen, ließe sich noch eine systematische (= enzyklopädische) Ordnung der Welt denken, die den Zufälligkeiten einer zunehmend unübersichtlichen Wirklichkeit entzogen wäre und das denkende/handelnde Subjekt bewahrte.

Hanne Darboven hat dafür mit ihrem Werk die Voraussetzungen geschaffen. So wäre es für das von Doherty/Nisbet eingeforderte, gänzliche Verständnis ihres Schaffens wohl zwingend eine eigene "Schreibzeit" zu finden. Dies wäre, um in Zeiten von Fake News und Echokammern einem Missverständnis vorzubeugen, nicht die Erfindung individueller Wahrheiten, sondern im Gegenteil die fortgesetzte, unermüdliche Reflexion der Welt und seiner selbst; ein tatsächlich umfassender, ein enzyklopädischer Anspruch.

Joachim Kaak