Fred Sandback
Zeichnungen und Projekte 1966 - 1990

Winter 2008/2009

Fred Sandbacks Zeichnungen für Objekt- und Raum-Phantome
Zum Pragmatismus widersprüchlicher Erfahrungen

Wie kaum ein anderer reduzierte Fred Sandback das geometrische Objekt nur noch auf seine Konturen. Zu diesem Zweck verankerte er acrylfarbene Wollfäden oder auch mit farbigem Stoff bezogene zu Ecken umgeknickte, bleistiftdicke Drähte in Wände und Fussboden, so dass sich in der Vorstellung des Betrachters ein geometrischer Quader oder eine schräggestellte Wandplatte ergab. War es Schein oder Sein? Verschmolzen hier Objekt und Architektur
zu einem Vexierspiel? Schließlich ist von etwas auszugehen, was jedem Ding eignet: einer Kontur. Eigentlich hatte Sandback zu Beginn Assemblagen aus gefundenen Objekten arrangiert, war aber bald damit unzufrieden. Ein Freund, der Bildhauer George Sugarman, riet ihm: „Gut, wenn Du von all den Einzelteilen so genug hast, warum machst Du nicht einfach eine Linie mit einem Faden?“ 1 Gesagt, vom anderen getan! Die Idee erwies sich als so weitreichend und tiefgreifend, dass sie nicht nur eine einzelne Idee beinhaltete, sondern ein künstlerisches Programm für noch sog. „Skulpturen“, das von Sandback weiterentwickelt wurde.

Dennoch trennten bereits ausschließlich Maler wie van Gogh, Gauguin, aber auch Gustave Moreau die gemalte Kontur vom ebenfalls gemalten menschlichen Körper. Damit entwickelten sie eine neue Kunsttradition. Während der amerikanische Maler Edward Hopper Bilder erfand, auf denen das einfallende Licht in einen Innenraum die Projektion von Lichtquadern auf dem Fußboden und den Wänden erzeugt, obwohl es diese weder in der Wirklichkeit, noch auf dem gemalten Bild zu ergreifen gäbe, hat Sandback immerhin die Konturen körperlich vorgegeben. Seine „Skulpturen“ kommen nun aber auf den ersten Blick ohne ein Inneres aus, auf den zweiten jedoch nicht. Damit wird die Kontur in die Wirklichkeit gezogen, während der Objektkörper zwischen Illusion und realem Luftkörper schillert. Ist dadurch Raum ein Phantom geworden?

Es erstaunt nicht, dass Sandback gemeinsam mit Don Judd in Yale studierte und beide mit Carl Andre und anderen Künstlern um 1965/66 die Amerikanische Minimal Art begründeten. Beide Künstler analysierten das Objekt als eine Ganzheit von körperlichen und unkörperlichen Bedingungen. Im Falle von Sandback lassen sie sich aufzählen als Linie, d.h. Kontur, Farbe, Form, Material und Zeit. Letzteres kann zweierlei bedeuten: Zeit als die Dauer eines Werkes im Raum oder in der Vorstellung (bis man sich davon abwendet) oder auch Zeit als Raum für Ereignisse (unsere Betrachter-Füße ragen in denselben Raum hinein,   der sich in den konturierten Körpern zu verdichten scheint). Ausgezeichnet passt deshalb Sandbacks Begriff „pedestrian space“ zu diesem Umstand. 2 Er versteht deshalb auch die jeweilige Präsentation als Choreographie. 3 Das alte Thema „Figur oder Grund“ sei viel komplizierter, meinte er, deshalb habe es ihn dazu motiviert,  das Thema „der Mitte“ loszuwerden. Man könne sich nun fragen, wo die Skulptur eigentlich sei. Das Ding („an sich“) sei lauter Illusion. Fotos von den ersten Ausstellung in der Galerie Friedrich in München von 1968 zeigen weitere Besonderheiten, die in der Münchner Abendzeitung beschrieben wurden: „Sandback beschäftigt sich mit den Winkeln im Raum. Zwei Stäbe, einen halben Meter auseinander, überbrücken eine Ecke, gehen von Wand zu Wand, senkrecht mit je einem elastischen Kabel verbunden. Dadurch entsteht eine eigenartige Wirkung. Man sieht die Ecke, es gibt ja nichts, was sie verdecken könnte, sie ist greifbar – und dennoch ist die innere Barriere da, die einen eine Sekunde zögern lässt. Man muss etwas durchstoßen, um den abgetrennten Raum zu erreichen. Diese Imagination ist besonders stark bei einer Arbeit, die wie zwei Handbreit schmal auf dem Boden liegt – rundend überspringen die beiden Stäbe die Ecke. Fred Sandbacks Environments sind präzis geschossene Pfeile in die Raumvorstellungen des Menschen.“ 4

Die jetzige Ausstellung im Metropol Kunstraum zeigt in Siebdrucken acht Variationen der Ausstellung bei Heiner Friedrich im Jahre 1972 in der Maximilianstraße 15. Damals hatte sich Sandback von Objekt-Suggestionen verabschiedet und verstärkt auf die Herausforderung begrenzter Räume reagiert: Die beiden kleineren Räume der Galerie umschließen einen größeren in der Mitte. Ab und zu suggerieren weiße Linien in den perspektivisch von oben einsehbaren Räumen, dass Wände auf einmal schräggestellt seien – und dies, während die echte Wand dahinter noch weiterhin senkrecht steht. Was ergibt diese Konstellation für das ‚Raumgefühl'? Dieser altmodische Begriff aus der Architekturgeschichte der 50er Jahre scheint hier durchaus noch angemessen. Weitere Zeichnungen und Drucke zeigen, wie systematisch Sandback die möglichen Positionen in eckigen oder sogar runden Räumen für seine Konturen oder Linien erkundete. Im Handeln und Nachdenken werden dem ‚pedestrian' seine Gefühls- und Definitionsschwäche bewusst. Welche Sicherheiten gäbe es für gezeichnete oder realisierte Ding- oder Raumphantome? Auf anderen Zeichnungen scheint Sandback das flache Blatt Papier mit dem jeweils möglichen Raum einzutauschen. Nur zwei Striche, leicht winklig zueinander gesetzt oder auch im rechten Winkel zueinander, ersetzen die räumlich präzise Positionierung und aktivieren stattdessen die Papierfläche. Da die Raumillusion hier vollständig entfällt, herrscht nun ihre abstrakte Erscheinung vor. Eigentümlicherweise wirken diese Zeichnungen wie Nachfahren der Bilder russischer Suprematisten. Somit lassen sich auch in den plastischen oder gezeichneten Konturen oder Linien ‚verborgene Dimensionen' entdecken, die impliziert sind. 5

Geometrie in minimalistisch-suggestiven Raum-Skulpturen besteht nicht um ihrer selbst willen, sondern wird erst im Handeln und Erleben des Betrachters geboren. Eine derartige Auffassung über Ästhetik nannte man damals in Amerika ‚pragmatisch'. Das Stichwort ‚Pragmatismus' beschreibt eine Linie der Philosophie, die ausgehend von ihrem Begründer Charles Sanders Peirce bereits am Ende des 19. Jahrhunderts feste, vorgeprägte Ideen und Überzeugungen ablehnte und Erkenntnis von der Praxis von Beobachtungen und Handlungen abhängig machte. 6  Allem vermeintlich Absoluten wurde das Relative in der Wirklichkeit vorgezogen. Auf dieser Grundlage argumentierte auch in den 20er Jahren John Dewey und in den 60er Jahren erneut Willard von Orman Quine. 7 Dewey ließ die Erkenntnis von der Erfahrung des Subjektes abhängen und stellte dabei der rationalen Erkenntnis verstärkt solche der Empfindungen zur Seite. Besonders sein Buch Experience and Nature (1925), wurde unter amerikanischen Künstlern herumgereicht. Quine baute darauf auf und machte auf der Basis der europäischen Sprachphilosophie nun einen Unterschied zwischen Sprache und Erkenntnis auf Grund von Handlungen in der Wirklichkeit, die alle von ihrem Kontext abhängen würden. Sprache könne deshalb diese Wirklichkeit nicht widerspiegeln, jedoch würden beide gemeinsam in einem holistischen Ganzen zu einer akzeptablen Erkenntnis führen. Pragmatisten waren und sind extreme Gegner einer wie auch immer gerichteten Metaphysik. Ihr Pragmatismus war auf eine verifizierbare Ganzheit und nicht mehr auf das sog. Wesen der Dinge bezogen. Auch Fred Sandback erklärte in einem öffentlich geführten Gespräch, er wolle über Kants Auffassung „vom Ding an sich“ und den Platonismus hinausgehen. 8
Auffallend oft beziehen sich Minimal-Künstler wie Sandback auf pragmatische Schlüsselbegriffe, ohne jedoch den Begriff selbst zu erwähnen. Die Erfahrung (z.B. von Dingen) habe ihre eigenen objektiven Eigenschaften. Qualitäten könnten auf lakonische Weise beschrieben werden, ohne Bezugnahme auf ein psychologisches Selbst, sondern auf ein objektivierbares, universelles. Gleiches gelte für Tätigkeiten, die Dewey als „Basis für die Empfindungsfähigkeit“ bezeichnet. Der so generierte Sinn sei als Mittel einer Generalisierung universal, denn Sinn sei ebenso objektiv wie allgemeingültig. In diesem Zusammenhang führt Dewey sogar das Wort ,minimal' auf, da die in der Sprache benutzten Eigenschaften, die Ereignisse oder Dinge beschreiben, einen Minimal-Sinn (das Wort wird von Dewey kursiv gestellt)
ergeben, „der für die Zwecke eines intellektuellen Sicherheitsdenkens absichtlich beschränkt“ sei. 9

Entscheidende Impulse erhielten Künstler wie Sandback auch von John Cage, der zu Beginn der 1960er Jahre während seiner Dozentur in New York lehrte (offensichtlich dabei von Dewey ausgehend) und erklärte, dass es keine festen Kunstgattungen gäbe und dass man zunächst die Wirklichkeit als gegeben akeptieren müsse. Bald sprach es sich herum: Grenzen seien nicht vorgegeben, wohl aber Bedingungen, die man für Operationen nutzen und sogar zum Inhalt des Werkes machen könne.
Übrigens sei auch die Negation einer Form durchaus geformt, wie für ihn als Komponisten die Pause und die Stille. 10 Die Bedingung („condition“) als solche sollte zum Thema des Kunstwerkes gemacht werden –Bedingungen für das Körperliche wie das Unkörperliche. In seinem Fahrwasser prophezeite 1962 und 1964 die amerikanische Kulturkritikerin Susan Sontag in ihrem Text Against Interpretation: „ What is important now is to recover our senses. We must learn to see more, to hear more, to feel more. ... Our task is to cut back content so that we can see the thing at all.“ Sie meine nicht Interpretation im breitesten Sinne, sondern „ I mean here a concious act of the mind which illustrates a certain code, certain rules of interpretation.“ 11 Darunter verstand die Autorin keinen Stil. Ein Künstler wie Sandback gab statt eines Stils nur noch Regeln vor, um auf kleinstem Nenner die Uninterpretierbarkeit der Welt als Nur-Dies oder Nur-Das zu erkunden und ihre Phantomhaftigkeit erstaunlicherweise als Teil der Wirklichkeit zu erkennen. „In no way is my work illusionistic,“ erklärte er, „Illusionistic art refers you away from its actual existence towards something else. My work is full of illusion, but they don't refer to anything. Fact and illusions are equivalents. Trying to weed one out in favor of the other is dealing with an incomplete situation.“ 12 Was dies betrifft, könnte man mit gutem Recht sagen, dass Sandback in der Kunst Erkenntnisse aus der klassischen Physik eines Niels Bohr verwirklichte. Der dänische Physiker hatte schon in seiner Dissertation über “On the Constitution of Atoms and Molecules”, die 1913 erschien, 13 von der Unmöglichkeit gesprochen, aus den physikalischen Erkenntnissen den Blickwinkel des Beobachters ausschließen zu wollen. Reine Objektivität sei unmöglich. Sandback ist deshalb nicht minder ein visueller Forscher innerhalb einer als wissenschaftlich anzusehenden Kunst.

Antje von Graevenitz

1 Sandback, Fred: Anmerkungen zu meiner Skulptur. In: Ausst;-Kat. Fred Sandback. Städtische Kunsthalle Mannheim. München 1986; reprint ders. Ausst.-Kat. Kestner-Gesellschaft, Hannover 1987 S. 17
2 ebd. 1987 S. 20 (dort fälschlich interpretierend übersetzt mit „prosaischer Raum“)
3 Gespräch mit Fred Sandback. Michel Govan, Fred Sandback, Marianne Stockebrand, Gianfranco Verna, in: Malsch, Friedemann, Christiane Meyer-Stoll (Hrsg.): Fred Sandback. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Liechtenstein. Vaduz 2006 (S. 153-161) S. 154
4 C.v.B.: Farbige Ströme quellen. Kurzberichte aus Münchner Galerie. In: Abendzeitung 20.11.1968
5 Verborgene Dimensionen waren in den 60er/70er Jahren in Amerika ein Schlagwort, wie es auch an dem damaligen Bestseller des Behavioristen Hall abzulesen ist. Hall, Edward: The Hidden Dimension. An Anthropologicalist Examines Human Use of Space in Public and Private. New York 1966
6 Peirce, Charles S.: On a New List of Categories. In: Proceedings of American Academy of Art and Science, 7, 1867 S. 287-298; ders.: Upon Logical Comprehension. In: ebd.: 1987 S. 418-432
7 Dewey, John: Erfahrung und Natur (1925). Aus d. Amerikanischen v. Matin Suhr. Frankfurt a.M. 2007; Quine, Willard von Orman: Word and Object. Boston 1960
8 Vgl. Immanuel Kants „Analytik des Schönen“ in: Kritik der Urteilskraft. 1. Teil, Werkausgabe, Bd X, hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a.M. 1974, in:  Hauskeller 1994 S. 219 ff. die Paragraphen 5, 9, 20 ; Sandback in: Malsch, Friedemann/Christiane Meyer-Stoll 2006 S. 163
9 Dewey 2007 S. 167, 168, 186, 226, 231, 249, 251, 254,
10 Vgl. Kostelanetz, Richard: John Cage. Eine Einführung. In: ders.: American Imaginations. Ives, Stein, Cage, Cunningham, Wilson. Aus dem Amerikanischen übersetzt von A. Carstens. Berlin 1983 S. 46
11 Sontag, Susan: Against Interpretation. New York 1966 S. 3-14
12 Sandback, Fred: Notes. In: The Fred Sandback Museum. Winchendon, Mass. The Dia Art Foundation, New York 1982 S.4
13 Bohr, Niels: On the Constitution of Atoms and Molecules. In: Philosophical Magazine Serie 6, Vol 26, 1913 S. 1-25