Robert Ryman

Herbst 2008

Seit seinen künstlerischen Anfängen vor fünfzig Jahren benutzt Robert Ryman fast ausschließlich weißes Farbmaterial. Ob er mit Öl-, Email- oder Lackfarbe arbeitet, ob auf Wachspapier oder Leinwand, ob im winzigen oder im riesigen Format – immer bleibt die Farbe Weiß das zentrale Thema. Um eine symbolische Bedeutung geht es dem Maler dabei jedoch nie. Vielmehr ist Weiß für ihn die Farbe, die „sichtbar macht“ und bei näherer Betrachtung eine Vielfalt unterschiedlichster Nuancen offenbart. Weiß bleibt dem künstlerischen Ausgangsmaterial am nächsten und verhindert Illusion am ehesten. Auch erlaubt es diese Farbe, unmittelbar über Grundfragen des Bildes zu reflektieren.

Mit erstaunlicher Konsequenz verfolgt Ryman das grenzenlos erscheinende Spektrum, das sich paradoxerweise in der selbst auferlegten Beschränkung entfaltet und die Arbeiten in einen permanenten Dialog mit dem Licht, dem Raum und den Betrachtern treten lässt. Dennoch bleiben Rymans weiße Bilder bis heute eine besondere Herausforderung, denn sie entziehen sich der direkten Übersetzung ins Sprachliche und stellen die Leistungsfähigkeit des Auges immer wieder neu auf die Probe. Jedes einzelne Werk von Robert Ryman macht dies auf seine Weise exemplarisch deutlich.

Auch die kleine quadratische, 1967 entstandene Leinwand, die mit Kreppband direkt auf der Wand befestigt ist, zeigt ausschließlich das unbearbeitete, im normalen Künstlerbedarf erhältliche Material: Die weiße Farbe erscheint als weiße Farbe, die Leinwand als Leinwand. In diesem Sinne definiert die Arbeit nichts anderes als einen Ausschnitt bekannter physischer Realität – vergleichbar der weißen Wand, auf der sie hängt. Auch das Kreppband dient einzig dazu, die Leinwand zu befestigen, und will nichts weiter sein als eine unprätentiöse Hängevorrichtung. Eigenartigerweise aber ist die Arbeit dennoch (oder gerade deshalb?) als eine von Robert Ryman und damit als ein höchst unverwechselbares Artefakt wiederzuerkennen. Aus dieser Perspektive erscheint das Werk individuell, eigenwillig, in gewisser Weise sogar malerisch. Was ist das für eine künstlerische Haltung, die das Anonyme, Standardisierte und Nicht-Manipulierte sucht, aber gleichzeitig das Persönliche nicht ausschließen will?

Ryman bezeichnet sich selbst als einen „Realisten“, weil seine „Ästhetik real“ sei und er anders arbeite als jene Künstler, denen es um „Darstellung“ oder „Abstraktion“ geht.1  Ryman greift mit der Bezeichnung seiner Arbeitsweise als „Realismus“ auf einen in der Kunstgeschichte seit langem immer wieder heftig diskutierten Begriff zurück. Hatten die Niederländer des 17. Jahrhunderts ihre Bildsujets der ‚Realität' ihrer Lebenswelt entnommen, verfolgten die französischen Künstler des 19. Jahrhunderts, indem sie sich selbst „Realisten“ nannten, mit diesem Begriff ein regelrechtes Programm: Der Künstler dürfe nur zeigen, was er wirklich sehe, hieß es. Sie wandten sich gegen jede Art von ‚Stil', gegen jede schönende, dem Auge schmeichelnde Eleganz, gegen Konventionen und einen verbindlichen Formenkanon. Ihr Ziel lag darin, Realität als das hinter dem Sichtbaren Verborgene zu erkennen, um damit gesellschaftliche Zusammenhänge aufzudecken und die Wirklichkeit in ihrer ursprünglichen und unverfälschten, bisweilen durchaus wörtlich zu nehmenden ‚Nacktheit' zu zeigen. Auch wenn sich die hinter dieser Absicht liegende Ablehnung jedes Transzendenz-Gedankens mit den Bestrebungen der aufkommenden Moderne deckt, ‚zeigte' das Bild Realität nur‚ Realität ‚war' es damit aber noch längst nicht. Mit dem Abbildcharakter lag eine Manipulation vor, das Bild musste als Ausschnitt und Darstellung letztlich Illusion bleiben.

Bereits die Realisten des 19. Jahrhunderts hatten die Auswahl des geeigneten Themas als die vordringliche Fragestellung erkannt, und bis heute, selbst unter veränderten Vorzeichen, gilt die Selektion als eine der wichtigsten künstlerischen Fragen überhaupt. Spätestens seit den 1960er Jahren geht es den Künstlern nicht mehr um die ‚Entkleidung' zur Umdeutung von Realität, sondern um die ‚Entscheidung' zur Separierung einer bestimmten Geste aus der Wirklichkeit. Separierung bedeutet im Realismus des 20. Jahrhunderts nicht mehr die Veränderung einer Struktur, sondern einen Transfer, also die Übertragung aus dem Bereich des Alltags in die Kunst. Dieser Prozess bringt nicht selten neue, fremde Aspekte mit sich, Ironie oder Kritik etwa, deren Wirkung sich manche Künstler bewusst zunutze machen. An dieser Verfremdung aber ist Ryman in keiner Weise interessiert. Entschiedener als für andere Künstler seiner Generation ist für ihn nicht mehr der realistische Inhalt, sondern die Realität selbst das einzige Thema des Bildes.

Auch Rymans Arbeit beginnt mit einer Reihe von ‚Entscheidungen'. Sie gehen mit einem Bewusstsein für die unmittelbare Umwelt (was umgibt mich?) und die persönliche Geschichte (was habe ich bereits gemacht?) einher. Rymans Kunst setzt spätestens mit dem Einkauf der benötigten Arbeitsutensilien ein – der Pinsel in verschiedenen Stärken, des Keilrahmens, der Leinwände oder anderer Bildträger sowie des Materials, das der Künstler als ‚Farbe' benutzt. Das Malen wird als etwas Handwerkliches, Nüchternes angesehen: die Malaktion selbst ist zunächst einmal nichts anderes als Farbauftrag (‚application'), die Farbe zu verteilende Masse, die Materialkombination eher Schichtung oder Ablagerung denn ästhetische Komposition. Der Anstrich wird gegen einen Kolorismus gesetzt, ‚paint' versus ‚color', kurzum: Realismus versus Repräsentation, Darstellung und Abstraktion: „Jedes Gemälde ist genau das, was man sieht.“2

Ein Realismus in dieser extremen Konsequenz ist mit einer bestimmten Rolle des Künstlers verbunden. Sie erfordert das unbedingte Zurücktreten hinter sein Werk. Ganz sicher ist Rymans Selbstverständnis in dieser Hinsicht mit dem von Andy Warhol vergleichbar, dessen Credo „Ich will eine Maschine sein“ auf Jackson Pollocks Motto „Ich möchte Natur sein“ antwortet. Dieses neue künstlerische Selbstverständnis musste in letzter Konsequenz bedeuten, aus dem künstlerischen Gestaltungsprozess auszusteigen und die Kunstproduktion in fremde Hände zu legen, um das Werk so in einen unabhängigen Wirkungsraum zu versetzen. Für die Betrachter ist diese Strategie auch heute noch die vielleicht größte Herausforderung. Denn noch immer kann ein Kunstwerk nur schwer als eine persönliche, bedeutungsvolle Äußerung verstanden werden, wenn sein individueller Entstehungsprozess nicht ablesbar ist.

In diesem Sinne kommt der Handschriftlichkeit des Bildes seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine grundsätzlich veränderte Bedeutung zu, was sich gleichfalls mit der Abkehr vom internationalen Expressionismus begründet. Bei völlig unterschiedlichen Künstlern sind im selben Zeitraum vergleichbare Strategien zu beobachten. Jasper Johns zum Beispiel verweigert das Persönliche, wenn er seine Bilder typografisch bestempelt, Warhol, wenn er einer Factory die serielle Fertigung seiner Kunst überlässt, und Roy Lichtenstein, wenn er seine subjektivistischen „Brushstrokes“ als gefrorene Ausschnitte einer Aktion vorführt. Sie alle parodieren eine Bilderzeugung, die bei Pollock noch expressiv vorgetragene Innerlichkeit bedeutete.

Die unmittelbarste Äußerung dessen, was Individualität bedeutet, ist die Signatur des Künstlers. Geradezu stellvertretend steht sie für alles Subjektive und wird als erkennbarstes Moment eines (angeblich) unbewusst-gestischen Handelns angesehen. Mit der Signatur, die sich auf Gemälden oft als schwungvolle Geste liest, verbindet sich seit Jahrhunderten eine Form der Bewertung, gilt doch der Name des Künstlers als Markenzeichen und Gütesiegel. Sie wird als Schlusspunkt des ästhetischen ‚Genie-Akts' angesehen, erst sie verleiht dem einzelnen Bild die erwünschte Aura. Dasselbe gilt für die beigefügte Angabe des Entstehungsdatums, durch die das Werk historisiert und seine Einmaligkeit zusätzlich betont wird. Das Prozesshafte der Produktion wird durch den Status des Vollendet-Seins ersetzt.

Um all dies zu unterlaufen, wird die Signatur auf der (sichtbaren) Bildvorderseite von den meisten der Zeitgenossen Robert Rymans eliminiert. Grundsätzlich teilt Ryman die zu Grunde liegende Haltung, wählt aber einen anderen Weg des Umgangs damit. Wenn er seinen Namen auf manchen seiner Arbeiten an zentraler Stelle bewusst positioniert, geschieht dies mit einer programmatisch-konzeptuellen Motivation. Für Ryman ist die Angabe des Autors wie jedes andere Element integraler Bestandteil eines Bildes und in der Bedeutung vergleichbar mit dem Bildträger, dem Rahmen, dem Format, der Wirkung als Objekt, dem Übergang zur Wand oder mit der Aufhängung des Werks. Signatur wie Datierung stellen bei Ryman keine zweite Darstellungsebene und kein Moment der Distanznahme dar, sondern erscheinen als gleichberechtigte Bildmotive. Buchstaben oder Zahlen sind für ihn Zeichen, die aus eigenständigen geraden und gekurvten Linien bestehen und als essentieller Teil der Komposition angesehen werden müssen.

Das Anonyme und das Persönliche werden in Rymans Bildern also nie als Gegensätze behandelt, sondern zu einer Einheit verknüpft. Insofern ist es auch niemals das Ziel dieses Malers gewesen, den Rahmen oder sonstige Begrenzungen des Bildes aufzulösen. Im Unterschied zu vielen seiner Zeitgenossen hat er am kollektiven ‚Ausstieg aus dem Bild' nicht teilgenommen. Für Robert Ryman stellt das Bild ein noch längst nicht ausgeschöpftes Potential dar. Die Malerei ist noch lange nicht am Ende, sagt er und ist davon überzeugt, dass in dieser Sache noch viel zu tun ist.3

Bernhart Schwenk

1 Robert Ryman, Über Malerei, Rede am 9. Januar 1991 in New York im Rahmen der „Guggenheim Museum's Salon Series“. Wiederabdruck in: Kat. Ausst. Robert Ryman, Espace d'Art Contemporain, Paris, und Hallen für Neue Kunst, Schaffhausen, 1991, S. 56 – 69 (engl. / dt.).
2 Robert Ryman, a.a.O. (Anm. 1).
3 Robert Ryman in: David Carrier, Robert Ryman on the origins of his art, in: Art bulletin X, 1993, S. 633: „Painting will go on. Painting is by far not finished, it will never be finished, because it's too rich. The medium is so challenging. What could be more challenging than to have endless possibilities. I think that there is much more to be done.“